Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn

 

Huckleberry Finn ist ein ganz schön abgebrühter Typ. Das muss er auch sein. Er ist nämlich ohne Mutter aufgewachsen und sein Vater ist ein Säufer, der sich fast immer auf ausgedehnten Sauftouren herumtreibt und Huck allein lässt. Natürlich ist Huck das abschreckende Beispiel für alle Mütter, die aus ihren Söhnchen brave Sonntagsschüler machen wollen. Natürlich ist Huck das große Vorbild für eben diese Söhnchen, weil er sich niemals waschen und kämmen, niemals zu Schule gehen und nicht einmal bei Tisch oder mit Messer und Gabel essen muss.

Aber auch Huckleberry hat ein Vorbild und das ist Tom Sawyer. Denn Tom hat die besten Ideen, so findet Huck, und weiss fast immer was zu tun ist. Tom kann Huck sogar dazu überreden, sich von der Witwe Douglas zivilisieren zu lassen. Die Zeit bei der Witwe gehört zu den schlimmsten Erfahrungen für Huck. Er muss saubere Kleidung anziehen, zu geregelten Zeiten essen und zur Schule gehen. Nicht einmal rauchen darf er. Aber gerade das zur Schule gehen hat schon sein Gutes, denn er lernt lesen und schreiben. Somit kann er seine eigene Geschichte niederschreiben. Den ersten Teil seiner Geschichte, Die Abenteuer des Tom Sawyer, hat nämlich schon Mr. Mark Twain erzählt. Obwohl Huck findet, daß diese Geschichte durchaus der Wahrheit entspricht, so meint er doch, Mr. Twain hätte an einigen Stellen schon ziemlich übertrieben. Deutlich kommt heraus, daß Huck überzeugt ist, er könne das Buch viel besser schreiben als Mr. Twain.

Denn Huck bleibt am Boden der Realität und neigt nicht zu Sentimentalitäten und Übertreibungen. So etwas würde er sich ganz bestimmt nicht nachsagen lassen. Und doch, manchmal, ganz selten zwar, wenn er in seinem Floß den Mississippi heruntertreibt, überkommt es ihn und er schildert die Landschaft so schön, daß man sich am liebsten sofort zu ihm setzen will. Dieser Drang hat übrigens viele Jahre auch Jonathan Raban verfolgt, bevor er ihn endlich so gut es ging wahr machte, mit einem Boot den Mississippi hinunterschipperte und sein eigenes Buch – Old Glory – darüber schrieb.

In Augenblicken der Einsamkeit am großen Fluss kann Huck auch schon einmal zu Philosophen werden. Dann versucht er mit dem Negersklaven Jim, dem er bei der Flucht in die Freiheit hilft, so wichtige Fragen zu klären, wie zum Beispiel die nach dem Ursprung der Sterne. Gemeinsam kommen sie dann auch zu hochphilosophischen Antworten. Die Sterne nämlich werden vom Mond gelegt, was ja völlig logisch ist, denn Frösche legen doch auch zirka so viele Eier.

Wenn gerade Zeit ist, versucht Huck, Jim sein gesamtes geschichtliches Wissen näher zu bringen. Schließlich hat Huck diesbezüglich ja auch einiges zu bieten. Dass dabei Heinrich VIII gleichzeitig seine Frauen umgebracht hat, der Sohn vom Herzog von Wellington ist, die Boston Tea Party veranstaltet und sich die Unabhängigkeitserklärung aus dem Ärmel geschüttelt hat, ist dabei nebensächlich. Schließlich ist es nicht so wichtig, wer historisch Ereignisse ausgelöst hat, sondern vielmehr dass sie geschehen sind.

So umfassend seine geschichtliche Schulbildung auch gewesen sein mag, bei den Fremdwörtern hat Huck doch recht oft Schwierigkeiten. Wörter wie prefore-ordestination tauchen plötzlich auf, er schreibt nonnamous letters, der Sohn des französischen Königs ist der Delphin. Manchmal weiß Huck genau, wovon er spricht. Manchmal hat man gar nicht den Eindruck, dass Huck mehr macht, als gut klingende Wörter nachzuplappern. Es passt auch völlig in sein Weltbild, dass er keinen Gedanken darüber verschwendet, warum ein Königssohn zum Meeresbewohner werden soll.

Auf ihrem Weg Richtung Süden am Mississippi erleben Huck und Jim einige Burlesken, die sich nicht immer völlig glaubwürdig auflösen, aber immer unterhaltsam sind. Mark Twain hat mit Huckleberry Finn ein Kinderbuch aus der Sicht eines vorzeitig erwachsen gewordenen Kindes geschrieben, das man erst als Erwachsener in seiner vollen Schönheit erfassen kann.

Über Karin Koller

Biochemist, Writer, Painter, Mum of Three
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7 Antworten zu Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn

  1. Lisa Mertens schreibt:

    Erinnerungen, Erinnerungen: Sommer 1987: Huckleberry Finn, Der Fänger im Roggen, Wer die Nachtigall stört, Früchte des Zorns, Portnoys Beschwerden. Als Literatur wichtig war. Wie schön wäre es, diese Bücher nochmals zum ersten Mal lesen zu können.

  2. Erika schreibt:

    „Schließlich ist es nicht so wichtig, wer historisch Ereignisse ausgelöst hat, sondern vielmehr dass sie geschehen sind.“

    In der heutigen Medienlandschaft wäre schon schön, wenn wir darüber, was tatsächlich passiert ist, und nicht, was vielleicht geschehen könnte, informiert würden. (@Japan) Ursachenforschung zu erwarten, wäre sowieso vergebliche Liebesmühe.

    • Karin Koller schreibt:

      Das finde ich auch, dazu vielleicht heute Nachmittag mehr.
      Es ist aber ein Unterschied, ob live berichtet oder über ein lange zurückliegendes Ereignis reflektiert wird.

      • Erika schreibt:

        Richtig. Aber ich erwarte mir gar keine Analyse. Ich wäre schon zufrieden, wenn wir über die Tatsachen (im Gegensatz zu den Erwartungen, die Scheinexperten von zukünftige Entwicklungen haben) informiert würden.
        Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr blasen irgendwelche halbwissenden Wichtigtuer ihre Spekulationen in den Äther.

  3. Sonja M schreibt:

    Tolles Buch, tolles Blog, tolles Foto, tolle Ohrringkombination!

  4. NicoleLee schreibt:

    Ich bin gerade erst zufällig ueber das Piercingforum auf dein Blog gestoßen und wollte dir sagen, dass deine Rezension meines Lieblingsbuches sehr sehr treffend ist. Tolles Blog!

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