Schamlose Notwendigkeit

Ohrringstechen und andere Nebensächlichkeiten – ein Erwachsenwerden, Teil 50

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„So, jetzt fädle ich den Schmuck durch“, sagte der Piercer. „Zum Aufmachen muss man den Ring mit einer kleinen Zange aufspreizen, bis die Kugel herausfällt.“

Das sagte mir dieser Mensch jetzt erst, wo es schon zu spät war, die Prozedur abzubrechen. Wie sollte ich es denn jemals schaffen, den Schmuck zu wechseln? Selbst wenn ich mir im Baumarkt ein winziges Zängelchen besorgte, würde ich mich nicht trauen, damit bei einem recht frisch gestochenen Ohrring herumzufummeln. Und Michael war nicht geeignet für solche, Uhrmacherpräzision erfordernde Tätigkeiten. Wie machten das andere gepiercte Menschen? Wechselten die ihren Schmuck nie? Gingen sie zum Feinmechaniker, um sich den Schmuck herauszunehmen und wieder einzusetzen? War bisher noch niemand so blöd gewesen, sich in diesem Laden den nie wieder entfernbaren Schmuck einsetzen zu lassen?

Eigentlich machte es keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Es war zu spät. Ich konnte es nicht mehr ändern. Sollte ich mein Leben lang einen Stahlring mit integrierter Stahlkugel in meinem Ohr stecken haben, würde ich mich auch daran gewöhnen.

Gerade als der kultivierte junge Piercingexperte seine Arbeiten an mir erledigt hatte, wachte Lisa auf und fing an zu schreien. Bis ich bezahlt hatte, war sie vom Brüllen schon ganz rot im Gesicht. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte wohl länger gebraucht, als ich gedacht hatte. Die  letzte Fütterung war schon über drei Stunden her und Lisa musste hungrig sein. Der Heimweg würde über eine halbe Stunde dauern und Lisa würde die ganze Zeit schreien wie am Spieß. Was konnte ich tun? Noch hatte ich Hemmungen, meine Brüste auszupacken, wo immer ich mich gerade befand. Ein Thermoskännchen mit abgepumpter Muttermilch hatte ich aber auch nicht dabei. Die Alternativen waren die Überwindung aller Schamgefühle oder ein herzzerreißend weinendes Kind mit schweißtreibendem Stress und Schuldgefühlen für mich.

Ein Kind im Tätowierladen zu stillen ging dann doch zu weit. Das würde den Zusammenprall von Altökotum mit Jugendkultur bedeuten. Das konnte nicht gut gehen wie jeder Versuch, konträre Kulturen gewaltsam zu vereinen. Deshalb verließ ich das Piercingstudio so schnell ich konnte. Wieder auf der Straße musste ich mir überlegen, was ich tun konnte. Einen klaren Gedanken zu fassen war gar nicht so einfach für mich, denn das Baby schrie und schrie. Weil sie keinen Schnuller nehmen wollte, war sie durch nichts zu beruhigen. Mir kam vor, die Leute auf der Straße sahen mich an, als würde ich mein Kind misshandeln.

Bisher hatte ich immer nur im äußersten Notfall vor anderen Leuten gestillt. Ich hatte Ausflüge und Besuche immer zwischen zwei Mahlzeiten geplant und fast nie musste ich sie öffentlich füttern. In der Stadt, wo mich vielleicht jemand kennen konnte, hatte ich noch nie ein al fresco Picknick für Lisa veranstaltet, auch musste ich noch nie meine Brüste auspacken, wenn ich allein mit ihr unterwegs war. Mit Michael zusammen war es auch nur halb so schlimm. Zu dritt gaben wir ein nettes Bild familiärer Dreieinigkeit ab. Alleine mit Lisa und in Lederhosen, die zu platzen drohten, fühlte ich mich unsicher.

Auf der Suche nach einem ungestörten Plätzchen sah ich einen Schotterweg, der am Fluss entlang führte. Dieser wand sich um einen mittelalterlichen Turm, hinter den man nicht sehen konnte. Geradezu ideal schien dieser Ort. Ich fuhr mit dem Kinderwagen um den Turm. Dahinter war tatsächlich niemand. Leere Bierdosen und überdurchschnittlich viele Hundeköttel deuteten darauf hin, dass der Weg von Leuten frequentiert wurden, die nicht gesehen werden wollten. Schnell holte ich Lisa aus dem Wagen, packte eine Brust aus und ließ das hungrige Kind trinken.

Keine zwei Minuten später hörte ich auch schon die Kieselsteine knirschen. Ich hoffte nur, an diesem einsamen Ort lauerten keine Triebtäter ihren Opfern auf. Die Schritte hörten sich zwar etwas laut an für einen geplanten Überfall, aber man wusste ja nie, was moderne Räuberbanden vorhatten. Mit einiger Erleichterung sah ich zwei alte Täntchen um die Ecke biegen. Ihnen folgte eine ganze ostdeutsche Pensionistenreisegruppe angeführt von einer einheimischen Reiseführerin samt keck in die Luft gestrecktem Schirm. Offenbar sah man ein historisch wertvolles und in einer Fremdenführung in jedem Fall beschreibenswertes Gebäude von der Stelle, an der ich gerade stand, am besten. Unbeirrt gab die Reiseführerin immer noch ihren Schirm hochhaltend ihr Sprüchlein zu Besten. Die alten Leutchen aber sahen mich entsetzt an. Die eine oder andere gezischte Bemerkung konnte ich hören, auch das Wort „Schamlosigkeit“ fiel. Schnell riss ich mir das Kind von der Brust und hoffte, ich hatte den ersten Hunger gestillt. Die Brust wider keusch verhüllend ging ich rasch von dannen. Vielleicht hätte ich selbstbewusst den alten Spießern Paroli bieten sollen, indem ich mich beim Stillen nicht stören ließ. Ich war aber in Sorge, dass jene alten Männer, die sich nicht über meine Tätigkeit aufregten, von meinen Brüsten aufgewühlter werden könnten, als ihnen guttut. Gegen zwei Widrigkeiten anzukämpfen überstieg wirklich meine Kräfte.

 

 

Über Karin Koller

Biochemist, Writer, Painter, Mum of Three
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