Maja Haderlap: Engel des Vergessens

Maja Haderlap beschließt, das „Versprengte, Erinnerte und Erzählte, das Anwesende und Abwesende in eine geschriebene Form zu bringen“. Sie setzt ihre Geschichte und sich selbst wieder zusammen aus „Luft und Anschauung, aus Düften und Gerüchen, aus Stimmen und Geräuschen, aus Vergangenem, Geträumten, aus Spuren“.

Die Erinnerung überhöht immer gewisse Szenen und lässt andere verblassen. In Maja Haderlaps Erinnerungen an ihre Kindheit in einem Dorf bei Eisenkappel erscheinen die gemeinsamen Ausflüge, Arbeiten und Gespräche mit dem Vater und der Großmutter plastisch und detailgetreu in ihrer Schönheit und ihren Schrecknissen. Die Mutter und die Geschwister werden zu Statisten, die kaum einer Erwähnung wert sind.

Nicht nur in der Erinnerung zeigt sich, dass manche Menschen als wertvoller erachtet werden als andere. Die Großmutter wurde im Zweiten Weltkrieg ins KZ Ravensbrück deportiert und konnte nur mit Hilfe anderer Frauen nach dem Krieg wieder zurückkehren. Alleine wäre sie zu schwach gewesen. Der Vater, damals kaum mehr als ein Kind, lebte mit den Partisanen im Wald. Beide wurden als Kärntner Slowenen verfolgt. Sie haben das Morden, die Denunziation, den Hass, den Krieg erlebt, die Toten gesehen, den Hunger und die Entbehrungen am eigenen Leib gespürt. Deshalb sind sie in der Familie etwas wert. Die Mutter kam aus einem anderen Dorf, sie wurde verschont. Sie gilt nichts. Dass fünf ihrer engsten Verwandten im Krieg von den Nazis verfolgt und getötet wurden, gilt auch nichts.

Kinder sind ohnehin nichts wert.

Es ist aber nicht so, dass man das Erlebte wie ein Schild vor sich herträgt. Vielmehr unterdrückt man es. Immer wieder bricht es aber hervor, der Krieg ist nie ganz zu Ende. Man weiß nicht genau, wer damals wen denunziert hat und bleibt für immer misstrauisch anderen gegenüber. Man weiß nicht, wie man mit dem Erlebten umgehen kann. Jedes Erinnern außerhalb des engsten Kreises der Vertrauten kann in Kärnten zu Beschimpfungen führen. Opfer- und Täterrollen werden umgekehrt. Weil sich Österreich zu lange als erstes Opfer gesehen hat, kann der wahren Opfer nicht gedacht werden.

Die Opfer verdrängen ihre Geschichte und schweigen, nichts wird aufgearbeitet. Schweigen und Verdrängen prägen das ganze Leben. Als Kind ertrinkt Maja beinahe, weil die Hausangestellte, mit der sie im Wasser planscht, plötzlich stirbt. Jahrelang hat sie Alpträume, weil sie glaubt, sie sei schuld am Tod der Frau. Niemand fragt, wie es ihr geht, wie sie mit dem traumatischen Ereignis zurecht kommt, niemand erklärt ihr, dass die Frau einen epileptischen Anfall hatte und nichts hätte getan werden können. Kindern erklärt man nichts.

Elend hat man genug. Das Sterben ist immer noch Bestandteil des Lebens – tödliche Unfälle bei der Waldarbeit, Morde und Selbstmorde, vor allem Selbstmorde.

Das ständige Verdrängen treibt die Menschen in die Verzweiflung, lässt sie verstockt und verschlossen werden. Sie halten das Leben nicht mehr aus. Der eigene Körper rebelliert gegen sie und wird krank. Sie können nirgends hin mit dem Erlebten, mit dem Leben. Erzählen können sie von ihrer Not nur jenen, die ihnen vertraut sind. Die anderen wollen auch 20, 40 und 60 Jahre danach nichts davon hören.

Als Slowenien unabhängig wird, keimt kurz Hoffnung auf:

„Nach dem Ende des Nazismus haben sie [die Kärntner Slowenen] noch voneinander gewusst, haben sich ihre Erlebnisse erzählt, haben sich im Leid des anderen wiedererkannt. Dann aber kam die Angst, mit diesen Geschichten nicht mehr dazuzugehören, fremd zu sein in einem Land, das andere Erzählungen hören wollte und ihre für unwichtig hielt. Sie wissen, dass ihre Vergangenheit in den österreichschen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, noch weniger in den Kärntner Geschichtsbüchern, wo die Geschichte des Landes mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnt, dann eine Unterbrechung macht und mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder einsetzt. Das wissen die Erzähler und haben gelernt zu schweigen.

Nun jedoch kramen sie das Erinnerte hervor, ziehen es aus dem Sack, lassen es wie beiläufig fallen, in der Hoffnung, dass es von einem Zuhörer aufgelesen werde. Es könnte ja sein, dass jemand etwas erfahren möchte. Es wäre an der Zeit.“

Diese Hoffnung wird mit dem Balkankrieg und den Ressentiments und Ängsten der Kärntner wieder zerschmettert.

Maja Haderlap gelingt es mit Engel des Vergessens, das kollektive Gedächtnis und das kollektive Vergessen anhand der persönlichen Erinnerung zu erklären. Sie zeigt, wie der Krieg in den Beteiligten geblieben ist, weil man sie ihn nicht beenden ließ. Sie beginnt, das dunkelste Kapitel der Kärntner Geschichte aufzuarbeiten. Der Ton des Buchs ist persönlich und sehr poetisch. Der Schmerz ist auf jeder Seite zu spüren. Der Schmerz der Opfer während der Nazizeit. Der Schmerz der Opfer noch Jahre danach. Der Schmerz über das Unverständnis, über das Vergessenwerden, über die Unfähigkeit, sich vom Erlebten zu befreien. Der Schmerz all jener, die damit leben müssen, auch wenn sie 16 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurden.

Es wäre an der Zeit, dass man darüber liest.

Über Karin Koller

Biochemist, Writer, Painter, Mum of Three
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18 Antworten zu Maja Haderlap: Engel des Vergessens

  1. Lustig, ich habe mir dieses Buch vorgestern gekauft, weil ich gerade zufällig auf dem Weg in die Stadt gelesen habe, dass es den Kreisky-Preis für das politische Buch des Jahres 2011 bekommen hat. Wenn ich deine Kritik lese, scheine ich eine gute Wahl getroffen zu haben. Ich werde heute damit anfangen und bin schon gespannt.

    • Karin Koller schreibt:

      Das hast du. Und für alle, die es noch in Erwägung ziehen: Lasst euch nicht vom Titel abstossen, der ist meiner Meinung nach sehr unglücklich gewählt und reflektiert nicht den Inhalt des Buchs.

  2. lilyberner schreibt:

    Was soll ich dem noch hinzufügen. Ich habe das Buch zufällig in die Hände gekommen, gelesen, und war hingerissen. In einer gerechten Welt wäre Maja Haderlap mindestens so berühmt wie Elfriede Jelinek. Das Buch des Jahres, mindestens.

    • Karin Koller schreibt:

      Stattdessen bekommt dieser matte, nichtssagende Abklatsch einer Familiengeschichte von Eugen Ruge den wichtigsten Preis.

      • lilyberner schreibt:

        Das scheint wie beim Oscar zu sein. Meistens gehen Preise an leicht verständliche überernsthafte middle of the road Schinken

  3. georgiasalomon schreibt:

    Wenn man das Buch gelesen hat, merkt man erst, wie wenig man über die Kärtner Slowenen und ihre Geschichte weiß. Diese Deportationen spielen ja in der offiziellen Erinnerungskultur leider gar keine Rolle

    • Karin Koller schreibt:

      Das stimmt. Ich habe, als ich zu Hause war in 5 verschiedenen Buchhandlungen nachgeschaut, ob es Literatur dazu gibt. Es gibt ein paar Bücher, die Erinnerungen und Briefe beinhalten, aber keine Geschichte der Kärntner Slowenen.
      Ich komme aus einer Gegend, in der es nicht so schlimm war wie in Eisenkappel. In unserem Dorf wurden aber auch Familien deportiert. Die Angst und die Ressentiments, die Maja Haderlap beschreibt, habe ich in meiner Jugend, als ich die Sommerferien dort verbrachte, auch überall deutlich gespürt.

  4. oksanawasiliev schreibt:

    Ich spreche da wohl auch aus eigener Erfahrung, aber ich finde es befremdlich, dass bei all den Diskussionen über die angeblichen Probleme der Mehrheitsbevölkerung mit den, wie immer man das definiert, „Fremden“, nicht im Ansatz ein Diskurs darüber besteht, welchen Problemen die ausgesetzt sind, die sich trotz Erfuellung aller Integrationsanforderungen nicht zu 100% hier heimisch fühlen können, weil das die Mehrheit aktiv verhindert. Insoweit erscheint mir das Thema dieses Buches ein sehr wichtiges und werde ich das Buch mit Interesse lesen

  5. stephito schreibt:

    Es ist wichtig, dass Sie dieses Buch empfehlen, Maja Haderlap schreibt hier gegen ein Tabu an, was sowieso das Schwierigste ist. Ich bin auch aus der „Gnade der späten Geburt“-Generation, in welcher Kinder möglichst nichts erfahren sollten, aber alles erspürt haben. Und habe in diesem Buch zum ersten Mal halbwegs begriffen, warum SlowenInnen in Kärnten PartisanInnen wurden,
    und wie letztklassig die heutige Politik mit ihnen immer noch umgeht.
    Dass die Mutter in ländlichen Familienstrukturen (auch städtischen) immer noch weniger zählt als die Großmutter, scheint mir eine Bedingung unseres patriarchalen Gesellschaftssystems zu sein.
    Jedenfalls sollte Haderlaps Text in die Schulbücher unserer Bücher Eingang finden.

  6. MarJar schreibt:

    Sehr schöne Rezension über dieses unglaublich schöne und wichtige Buch, danke

  7. stephaniebueskens schreibt:

    Lieblings- und Lebensbuch für mich, schön zu sehen, das andere das auch so sehen

  8. JimBob schreibt:

    ich habe das buch gerade vor 14 tagen ausgelesen, und kann dir nur vollinhaltlich zustimmen, eines der besten bücher, das ich in den letzten jahren gelesen habe; ich bin sehr froh, dass ich mich vom bescheuerten titel nicht abschrecken lassen habe

  9. Pingback: Lesestoff • Denkwerkstatt

  10. Dem letzten Satz kann ich nur beipflichten: Es wird Zeit, dass man darüber liest. Mich hat dieser Roman sehr beeindruckt, denn auch ich habe nicht alles gewusst.

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